-
- Prosa in Zimmerlautstärke
-
- Judith Hermanns Erzählband "Sommerhaus, später"
hat mit Pop so viel zu tun wie Modern Talking mit Diskurs-Rock
- "Der Sound einer neuen Generation", sagte Hellmuth
Karasek, rückte seine Brille zurecht und wischte sich über
den Mund. Eine Hand schob sich ins Bild und legte sich auf sein
Knie. Das war keine Streicheleinheit, sondern ein Hinweis darauf,
daß Marcel Reich-Ranicki etwas Abschließendes sagen
wollte: "Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende
Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein."
- Ähnlich harmonisch muß es zugegangen sein, als
im "Literarischen Quartett" das Erzähldebüt
der Berliner Autorin Judith Hermann vorgestellt wurde. Daß
die Kritikerfamilie eine Autorin einstimmig lobt, zumal eine
unbekannte, kommt selten genug vor. Ist dieses Urteil aber einmal
gefällt, setzt es alle am Buchmarkt Beteiligten unter "Mitverherrlichungsdruck"
(Berliner Zeitung). "Bemerkenswert", urteilte prompt
die Woche, "fulminant", applaudierte die Zeit. Und
das Publikum gibt den Kritikern recht. Innerhalb eines halben
Jahres hat es der Erzählband "Sommerhaus, später"
auf zehn Auflagen gebracht. Täglich werden nach Angaben
des Verlages tausend Exemplare verkauft, ein Erfolg, nur vergleichbar
mit Christoph Ransmayrs "Letzte Welt" und Ingo Schulzes
"Simple Storys".
- Man ist sich also einig. Was aber genau diesen "Sound"
ausmacht, scheint nicht so klar zu sein. Gemeinsam mit Autoren
wie Andreas Neumeister oder Thomas Kapielski liest Judith Hermann
auf Veranstaltungen, die "Literatur muß sein wie Rockmusik"
heißen, obwohl keiner der Autoren sich unter das Postulat
von Matthias Politycki stellen will. Also keine Rockmusik. Vielleicht
Pop? "Irgendwo steht immer eine Phrase aus einem Popsong",
schreibt die Frankfurter Rundschau und zählt auf, wann wo
welche Musik bei Judith Hermann auftaucht. Damit wird die 28jährige
derselben Kategorie zugeschlagen wie ihre Altersgenossen Alexa
Hennig von Lange ("Relax") und Benjamin von Stuckrad-Barre
("Soloalbum"), bei denen es nur um Sex, Tanzen und
Musikhören geht.
- Viel passiert auch in den Erzählungen aus "Sommerhaus,
später" nicht. Das Leben eines Malers gerät aus
dem Gleichgewicht, als er im ICE zwischen Hamburg und Berlin
die unscheinbare Sonja kennenlernt. "Ein Mädchen bloß
im braunen Mantel und wirklich unwichtig." Ein anderer,
der Markus Werner heißt, schlägt auf einer Party einer
Bekannten vor: "Ich könnte einen Film machen über
uns." Sie will eigentlich gar nicht mit ihm reden, sondern
lieber mit einem berühmten Regisseur flirten. Aber Markus
Werner läßt sich nicht abwimmeln: "Ein Film darüber,
daß gar nichts ist, daß es nichts mehr gibt, nichts
zwischen uns und nichts um uns herum."
- Und in der Erzählung "Hurrikan" besucht eine
junge Frau, Christiane, ihren Ex-Freund auf einer Insel, nur
um zu sehen, wie er jetzt lebt und ob er Berlin vermißt.
Er vermißt die Stadt nicht, nur sie ein bißchen.
Sie weiß nicht, was sie von ihm will, "vielleicht
eine neue Art von Freundschaft, vielleicht überhaupt nichts
mehr". Sie wartet noch ein paar Tage, in der Hoffnung, daß
etwas geschieht. Aber selbst der Hurrikan, der im Radio immer
wieder angekündigt wird, bleibt aus.
- Eigentlich erzählt Judith Hermann in allen Geschichten
von diesem Hurrikan, dem großen Ereignis, auf das alle
warten, das sich aber nicht einstellen will. Manche ihrer Figuren
haben das "schuldige Gefühl, irgend etwas Zukunftweisendes
sagen zu müssen", ziehen es aber vor zu schweigen.
Man lebt in der Gegenwart, alles andere wird auf ein Später
verschoben. Es knallt nicht. No Pulp Fiction.
- Und obwohl manche Kritiker meinen, daß hier von einer
"bohemistischen Berliner Szene, von Müßiggängern
und Künstlern" die Rede ist, "deren Tage und Nächte
sich wesentlich um Sex und Drogen, Alkohol und Musik drehen"
(Die Woche), hat "Sommerhaus, später" nichts mit
den Pop-Romanen gemein, deren "Durchbruch" (BZ) in
Deutschland derzeit gefeiert wird.
- Es geht ruhig zu bei Judith Hermann. Die Zimmer sind dunkel,
der Himmel ist grau, die Menschen sind müde. Meist fällt
Schnee, und manchmal wird ein bißchen Staub aufgewirbelt.
Sogar in den Gesichtsfalten der Figuren scheint sich Staub angesammelt
zu haben, so langsam und leise leben sie, ihre Zeit dehnt sich
unendlich.
- Auch in der Erzählung über einen Mann, der in einem
heruntergekommenen New Yorker Hotel wohnt und versucht, den Tag
herumzukriegen. Manchmal nimmt der Mann, der Hunter Tompson heißt,
sich "Zeit für Musik. Zeit für die Musik, so wie
jeden Abend, Zeit für eine Zigarette, Zeit für die
Zeit". An einem Abend vor Ostern geschieht dann doch noch
etwas. Ein Mädchen steht vor seiner Tür, weil er Bach
hört. Sie will mit ihm ausgehen, er soll ihr etwas über
New York erzählen. Tompson zieht seinen besten Anzug an
und wartet, den ganzen Abend. Das Mädchen kommt, als es
schon zu spät ist. Tompson hat den Anzug wieder ausgezogen
und die Tür verschlossen. Das Mädchen entschuldigt
sich, will aber noch wissen, warum er hier lebe. "Weil ich
fortgehen kann. Jeden Tag, jeden Morgen meinen Koffer packen,
die Tür hinter mir zuziehen, gehen."
- Alle sind auf dem Sprung, halten sich die Möglichkeit
offen, jederzeit gehen zu können, wollen sich nicht einrichten
und haben es längst getan. Ihre Freiheit ist nur eine scheinbare,
und sie selbst glauben auch nicht mehr so ganz daran. Sie wollen
sich auf nichts festlegen, tauchen auf und verschwinden wieder,
ohne Spuren zu hinterlassen. "Ich komme und bleibe und fahre
dann wieder. Was soll da sein?"
- Judith Hermann beschreibt genau den Moment, der das Leben
dieser Menschen verändern könnte, die verpaßte
Gelegenheit ebenso wie die wahrgenommene, die dann aber doch
nichts bewirkt. Und selbst wenn sich jemand zu einer Entscheidung
durchgerungen hat, macht das nicht glücklich, sondern wütend.
Das Leben ist "gut und beschissen" zugleich. Nichts
ändert sich. Alles bleibt gleich.
- Mit dieser Zustandsbeschreibung der ausgehenden Neunziger
liegt Judith Hermann genau richtig. Langeweile als Programm in
der Wiederholung des immer Gleichen, langsam und manchmal ermüdend:
Prosa in Zimmerlautstärke. Dabei will sie beides, "szenig"
und "tantenhaft" schreiben, jung und alt gleichermaßen
ansprechen. Glaubt man den Verkaufszahlen, ist ihr das wohl auch
gelungen. Judith Hermann versucht, die Langeweile mit Worten
zu füllen und Banales spannend zu erzählen. Bei fünf
von neun Geschichten funktioniert das auch, dann wird der Stil
zum Selbstläufer.
- Der Sound von Judith Hermann ist traurig, aber distanziert.
Die Personen sprechen kaum, und wenn einmal Musik gehört
wird, dann Polly Jane Harvey oder Bach von Glenn Gould. Aber
nur sehr leise. Drogen werden genommen, wenig und selten. Mit
Rock und Pop hat das nichts zu tun. Auch sonst fehlt den Erzählungen
alles, was man von einer Pop-Autorin erwarten würde. Keine
Schießereien, keine durchtanzten Nächte, keine endlosen
Aufzählungen der neuesten Plattenerwerbungen. Wenn Bach
Pop ist, dann ist Modern Talking Diskurs-Rock. Wahrscheinlich
muß man nur jung und erfolgreich sein, um dem Schema Pop
zu entsprechen.
-
- Jan Brandt
-
- © http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_99/09/26b.htm